Mein Pferd ist leider so
„Der beißt“. „Die ist ein Durchgänger“. „Der spult sich eben gerne auf“. – Sätze wie diese hört man oft, wenn Pferdebesitzer das Verhalten ihrer Vierbeiner beschreiben. Es klingt fast so, als wären unliebsame Verhaltensweisen fest in den Charakter des Pferdes eingeschrieben. Aber ist das wirklich so? Sind solche Probleme ein unvermeidbares „So-ist-er-halt“, oder kann man das Verhalten schwieriger Pferde ändern? Und wenn ja, wie und wann geht das, und wann nicht? Vielleicht lohnt es sich, bei diesem Thema mal genauer hinzusehen – bei den Pferden und bei uns selbst.
„Wenn dein Pferd einen Fehler macht, so suche die Ursache bei dir. Und solltest du sie nicht finden, dann suche gründlicher.“
Egon von Neindorff
Charakter und Verhalten
Pferde sind hochsensible Lebewesen, die in komplexer Weise auf ihre Umwelt und ihre Menschen reagieren. Viele Verhaltensweisen, die wir als „störend“ empfinden, haben tiefere Ursachen. Kein Pferd wird als dickschädeliger Querulant, biestiger Beißer oder ständig ohrenanlegender Stiesel geboren. Natürlich kommt jedes Pferd mit einem individuellen Charakter zur Welt, der bestimmte Verhaltensweisen begünstigt. Grundsätzlich streben alle Pferde nach Ruhe, Frieden und Sicherheit. Doch Stress, Unsicherheit, mangelnder Komfort, Ausbildungsfehler oder schlechte Erfahrungen verderben im Laufe der Zeit das ursprünglich freundliche, harmoniesuchende Wesen des Pferdes.
Diese negativen Einflüsse und das damit einhergehende Ungleichgewicht im Inneren des Pferdes sind allerdings alle menschengemacht. Sei es die Herdenzusammenstellung, die Haltung, das Futter, das Equipment, der Umgang oder das Training. Alles, was nicht passt, stresst das Pferd, und dieser Stress sucht sich einen Weg des Ausdrucks. Manche Pferde drücken ihren Stress auf eine subtile, andere auf eine deutlichere Weise aus. Sie sagen durchaus ihre Meinung zu den Dingen in ihrem Leben, und man kann sie auch dazu erziehen, das zu tun. Warum das sogar eine gute Idee ist? Dazu später mehr.
Es gibt kein Verhalten. Es gibt nur Kommunikation
Ein häufiges Bild ist aber leider dies: Viele Menschen übersehen oder missverstehen die Stressäußerungen ihres Pferdes, ignorieren oder bestrafen sie gar. Wenn das Pferd nun immer wieder erfährt, dass dem Menschen seine Meinung egal ist, entweder, weil er nicht versteht, was das Pferd da tut, oder weil er glaubt, es sei aufsässig, dabei habe es einfach nur zu gehorchen und zu funktionieren, dann entlädt sich der Stress des Pferdes auf anderen Wegen.
Das Pferd kann vollkommen verstummen und innerlich zerbrechen, während es alles scheinbar brav mitmacht. Doch solche Pferde haben sehr hohe Chancen, irgendwann psychisch oder körperlich krank zu werden. Auch Verhaltensstörungen und stereotypes Verhalten sind fehlgeleiteter Stress, den das Pferd nicht anders kompensieren kann. Manche Pferde leiden unter körperlichen Erkrankungen, die scheinbar keine Ursache haben, und die nur psychosomatisch erklärt (und geheilt!) werden können.
Widerstand
Andere Pferde verkünden, wenn sie ignoriert oder gestraft werden, noch lauter und vehementer ihren Unmut. Denn dieser ist durch das Unverständnis des Menschen zusätzlich mit Frust aufgeladen. Sie gehen dazu über, sich aktiv zu wehren, oder passiven Widerstand zu leisten. Sie können bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit den Dienst quittieren, im Rahmen ihrer Möglichkeiten protestieren, oder zu fliehen versuchen. „Widersetzlichkeit“ heißt das dann, wird der Sache aber nicht gerecht.
Manches Pferd findet seinen ganz eigenen Weg, sich etwas Erleichterung von seinem Stress zu schaffen. Auch die Vierbeiner können sehr kreativ werden, um ihre Ziele zu erreichen. Viele greifen aber auf die ganz klassischen, arttypischen Verhaltensweisen zurück: flüchten, weglaufen, sich entziehen, sich festmachen, mit allen Vieren blockieren. Oder Drohen, beißen, schlagen, bocken, steigen, usw.
Die Botschaft des Pferdes verstehen
Das große und tragische Missverständnis hier ist es, wenn das Verhalten des Pferdes als Boshaftigkeit interpretiert wird. Doch stop, es gibt kein bloßes Verhalten – denn jedes Verhalten ist Kommunikation. Das Pferd versucht, auf diese Weise zu sagen, dass es ein Problem hat. Und diese Botschaft neutral zu betrachten, statt uns persönlich dadurch angegangen zu fühlen, das fällt uns Menschen manchmal sehr schwer.
Oft gibt es für „Problemverhalten“ nicht den einen, sondern mehrere Faktoren. So manches Pferd, das beißt, tut dies nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil es sich bedrängt oder unsicher fühlt und nicht weiß, was es stattdessen tun soll. Ein Durchgänger ist möglicherweise schlicht überfordert. Er kann aber auch mangelhaft ausgebildet sein. Oder er hat einen Ort, an dem er sich wohler fühlt und zu dem er schnellstmöglich zurückmuss, um sich wieder gut fühlen zu können.
Zu versuchen, ein solches Pferd zu rehabilitieren, kann sehr einfach oder aber sehr schwierig sein. Fakt ist jedoch, dass einmal erlernte Verhaltensmuster eben genau das sind und bleiben – erlernt. Das Pferd wird sie wieder und wieder nutzen, wenn es das angebracht findet. Hopfen und Malz sind aber deswegen jetzt nicht verloren, denn in vielen Fällen kann es umlernen, oder man bekommt die Ursache derart gelöst, dass das Pferd das Verhalten nicht mehr zeigen muss.
Wenn das Pferd nicht weiter weiß
Eine unserer beiden Stuten, Toscana, wurde von jemand anderem ausgebildet, bevor sie zu uns kam. Neu eingezogen und schließlich gut eingelebt, wollte sie nicht an der Hand antraben. Das bekam ich schnell gelöst, doch plötzlich eines Tages biss sie jedes Mal, sobald ich sie beim Führen antraben ließ. Für mich ein Schreck und zunächst ein Rätsel. Warum auf einmal diese Aggression? Die Stute war doch sonst „totenbrav“.
Die Antwort lag weder in einem schlechten Charakter noch in einem „So-ist-sie-halt“, sondern in einer unguten Kombination mehrerer Faktoren. Sie hatte die Angewohnheit (oder zuvor gelernt?), beim Führen sehr dicht neben dem Menschen zu laufen, und zeigte sich nach einer mehrwöchigen Auftauphase enorm gestresst und ängstlich im Training.
Ein totenbraves Pferd
Das vermeintlich totenbrave Pferd war nämlich in Wirklichkeit mental „shut-down“, also stumm und innerlich dissoziiert gewesen. Das kann je nach Pferdetyp dann passieren, wenn das Pferd regelmäßig mehr gestresst wird, als es aushalten kann. Vor allem in der Ausbildung, wenn man sich nicht genug Zeit dafür nimmt. Oder nehmen kann, weil man einen großen Pferdebetrieb führt und Geld verdienen muss.
In so einem Fall passiert beim Pferd das, was auch bei uns Menschen passiert. Das Nervensystem fährt sich in eine Art Notfallmodus herunter, das Bewusstsein klinkt sich ein Stück weit aus, das Lebewesen „dissoziiert“. Es spürt dann weniger Stress und Schmerz und Angst, aber es erstarrt auch innerlich und ist nicht richtig „da“.
Bei uns angekommen, taute die Stute allmählich aus diesem Zustand auf. Das ist eigentlich eine sehr gute Sache, denn das passiert nur, wenn das Nervensystem sich entspannen und gewissermaßen normalisieren kann. Doch sie zeigte dann eben auch plötzlich ihren enormen Stress, den sie im Training hatte. Spürte ihn vielleicht jetzt auch erst wieder, nun wo ihr Nervensystem in den normalen Betriebsmodus zurückkehrte. Und durch ihre Angewohnheit, so dicht am Menschen zu laufen, fühlte sie sich zusätzlich arg bedrängt. Sie hatte aber offenbar erlernt, dass sie genau so laufen musste, und sie wollte immer alles richtig machen.
Dem Pferd helfen, löst Probleme
Was für ein innerer Konflikt! Wie soll ein Pferd diese Zwickmühle lösen? Das kann es nicht. Also biss sie, wenn sie an der Hand traben sollte. Im Schritt hielt sie ihren Stress im Training gerade so noch aus, doch im Trab lief ihr Fass einfach über. Mit sehr kleinschrittigem Training, viel Beziehungsarbeit und indem ich ihr immer zuerst Sicherheit und Entspannung vermittelte, gelang es mir, ihr Verhalten nach und nach aufzulösen. Denn in Wirklichkeit war es kein Verhalten – sondern sie sagte mir (recht laut): „Ich habe solchen Stress, dass ich das hier nicht aushalten kann!!“
Ich half ihr mit ihrem inneren Konflikt und dadurch mit ihrem Stress. Heute läuft sie völlig entspannt und hochkonzentriert auch im Trab neben mir – dicht oder weniger dicht, das ist egal. Sie beißt nicht mehr.
Ganz wichtig fürs Verständnis: Ich habe sie NICHT trainiert, sich so zu verhalten, oder ihr das Beißen irgendwie aberzogen. Sondern unsere Stute fühlt sich jetzt gut in der Arbeit mit mir. Deswegen sagt sie mir nicht mehr, dass ihr alles zu viel ist (durch Beißen). Das muss man unbedingt sehen und verstehen, wenn man Pferden mit solchen Problemen helfen möchte.
Führungsstarke Pferde
So verschieden wie bei uns, so unterschiedlich sind auch bei den Pferden die Wesenszüge, Vorlieben und Charaktere. Und jeder davon hat andere Auswirkungen auf Umgang und Training. Es gibt Pferde, die eine enorm starke Persönlichkeit mitbringen.
Mein eigenes Pferd, Artemis, gehört in diese Kategorie. Sie war von Anfang an sehr führungsstark und gab nur ungern die Kontrolle ab. Es war nicht leicht, eine echte Beziehung auf Augenhöhe zu entwickeln und dieses Pferd davon zu überzeugen, sich mir voll und ganz anzuschließen, statt eigene Entscheidungen zu treffen.
Ein ganz kleines bisschen „Nein“ war im Zweifelsfall immer dabei. Ich hatte oft das Gefühl, dass es nur daran liegt, dass mein Pferd mich so gut leiden kann, dass es mich nicht zum Teufel jagt. Ein ganz kleines Stück Einverständnis von ihrer Seite hat lange gefehlt und es kostete mich Jahre des stetigen Lernens und Analysierens, mich dem Kern des „Was fehlt noch??“ zu nähern.
HorseSpeak nach Sharon Wilsie brachte mir dann den Durchbruch und das letzte, fehlende Stück. (Bei Toscana übrigens auch.)
Beziehung statt Härte
Die Arbeit mit Artemis lehrte mich jedoch, selbstbewusst und kompetent die Führung zu übernehmen. Nicht durch Härte, denn so etwas brachte sie gegen jeden auf, der das mit ihr versuchte, sondern durch Geduld, Klarheit, Beharrlichkeit, Verlässlichkeit und Vertrauen. Und mittels Motivation, Motivation und Motivation. Heute lässt sie sich sehr gut fallen und vertrauensvoll leiten, ohne den Drang, alles selbst regeln zu müssen. Aber es gibt nach wie vor Momente, wo meine Stute mir zunächst sagt: „Was, das soll ich machen? Ich weiß ja nicht.“ Manche Dinge muss ich deswegen besonders kleinschrittig und gründlich mit ihr üben, da jede kleine Ausbildungslücke dafür sorgen würde, dass sie sie nach Gutdünken mit eigenen Ideen füllt. Und die Ideen, die Pferde haben, weichen oft stark von dem ab, was wir Menschen für gut, vernünftig und sicher befinden.
Wenn Pferde „frech“ sind und Menschen testen
Ja, es gibt durchaus Pferde, die derart gewieft sind, dass sie ihren Menschen minutiös beobachten und gezielt ihre Werkzeuge auspacken, weil sie genau wissen, wie er tickt – und wie sie ihre größtmöglichen Benefits bekommen oder ihn völlig aus der Fassung bringen können.
Vor allem bei den Ponyrassen sind öfter solche Spezialisten zu finden. Wer ein solches Pferdchen hat, muss sehr gefestigt und souverän sein, um sich nicht verunsichern zu lassen. Er muss schneller, vorausschauender und smarter sein als sein cleveres Reittier, damit es keinen Unfug lernt, den es gezielt gegen seinen Menschen einsetzen kann.
In meinen Augen ist jedoch selbst das eine Botschaft des Pferdes: „Passt du auf? …nein? Hm…Wenn ich regelmäßig klüger bin als du, wie kannst du dann von mir verlangen, dass ich mich von dir führen lasse und dir gehorche? Besser für uns wäre es, wenn ich uns führe, denn sonst wird uns ein Tiger erwischen.“
Eigentlich testet das Pferd die Kompetenz seines Menschen, und der Mensch fällt durch. Das Pferd testet aber nicht, weil es frech ist, sondern weil ihm sein Instinkt sagt, dass es nur so überleben kann: Indem es die Kompetenz der anderen in seiner Gruppe kennt, und indem allen klar ist, wer führt und wer folgt.
Nerven aus Stahl
Ja, da draußen gibt es echte Spezialisten auf vier Hufen. Genial, clever, einfallsreich, aber auch auf eine Weise nervtötend. Kennst du so ein Pferd? Bei ihnen heißt es: Wer hat den längeren Atem, die größere Kompetenz und die meiste Geduld. Nur wenn der Mensch diesen Wettkampf des Verstandes für sich entscheidet, wird ein solches Pferd ihn respektieren und auf ihn hören.
Es ist eine Menge an mentalen Skills nötig, wenn das Pferd zum hundertsten Mal die Regeln infrage stellt und immer wieder die gleichen Dinge vom Menschen erklärt haben will. „Meinst du das ernst? Wirklich? Wirklich? Und jetzt…? …Passt du auch wirklich auf? … Bist du noch da? …Und jetzt?“
Ich wünsche dir viel Geduld und eiserne Nerven, wenn du so ein Pferd hast. Es erfordert eine Menge innerer Arbeit, sich durch ein solches Verhalten nicht persönlich infrage gestellt und angegriffen zu fühlen, und dennoch hellwach zu sein und stets klare Grenzen zu setzen. Viele Menschen werden in Gegenwart solcher Pferde sehr ärgerlich oder unsicher. Manche Menschen werden vor lauter Hilflosigkeit auch aggressiv und ungerecht, da das Pferd vermeintlich „respektlos“ ist.
Gelernt ist gelernt
Gerade bei sehr intelligenten oder führungsstarken Pferden sollte man sich also besser keine Fehltritte und Unachtsamkeiten erlauben, denn es kann Jahre dauern, bis man ein einmal (ja, einmal kann reichen!) erfolgreiches, ungutes Verhalten wieder abtrainiert hat. Wenn es überhaupt möglich ist…
Die Folgen können dabei von „er respektiert dich auch weiterhin nicht“ bis zu „er will nichts mehr mit dir zu tun haben“ reichen. Dabei besteht bei manchem Typus Pferd auch das Risiko, dass das Tier die körperliche Herausforderung durch den hilflos-aggressiven Menschen annimmt und zeigt, dass es über kann. Dann hat man den Salat: 600kg Pferd gegen 80kg Mensch. Und man hat ein gewaltiges Problem, wenn das Pferd lernt: oh, ich bin ja viel stärker als du, und wenn ich SO mache, rennst du eingeschüchtert weg…
Der Mensch als Schlüssel – erlerntes Problemverhalten im Training
Ich denke, ich habe bis hierher einigermaßen deutlich gemacht, wie wichtig es ist, die Botschaften des Pferdes ernst zu nehmen und richtig darauf zu reagieren. Doch nicht immer lässt sich alles, was ein Pferd tut, nur auf Stress, Diskomfort oder kommunikative Missverständnisse zurückführen.
Meine erste Reitbeteiligung vor vielen Jahren konnte sehr hitzig sein und hatte einige Verhaltensweisen, die sie teilweise schwierig machten. Eine davon war Losstürmen und durchgehen. Eine Bremse kannte dieses Pferd manchmal nicht. Rückblickend weiß ich jedoch mittlerweile, dass sie auf einige Hilfen nicht reagieren KONNTE, weil sie gar nicht wusste, was die Hilfe bedeuten sollte – was vor allem ein Ausbildungsfehler ist. Sozusagen menschlich implementiertes Problemverhalten. Denn ein Pferd muss zuerst alles, was es tun soll, lernen, und das gründlich.
Ausbildungslücken
Wenn ich mit einem schlecht vorbereiteten Pferd losreite, brauche ich mich nicht wundern, wenn Dinge (wie z.B. das Bremsen…) nicht klappen. Und auch dann, wenn ein Pferd in der Vergangenheit durch dummen Zufall oder menschliche Unachtsamkeit bestimmte „Antworten“ auf Situationen gelernt hat, und keine Alternativen dazu kennt, dann kann ich mich darauf verlassen, dass es im Fall der Fälle diese Antworten – also das falsch gelernte Verhalten – wieder zum Besten geben wird.
Auch bei solchen Problemen muss ich auf Spurensuche gehen: Was genau hat das Pferd wie und wodurch gelernt? Gibt es weitere Ursachen, wie in Toscanas Beispiel, die das Verhalten fördern oder aufrechterhalten? Wenn ja, müssen sie zuerst beseitigt werden, denn erst dann kann ich das Pferd auch trainingsmäßig „umschulen“. Ihm erklären, dass sein Verhalten nicht gewünscht ist, und ihm etwas Neues stattdessen beibringen. Wenn ihm sein Verhalten aber eine Menge nützt oder wenn es dieses Verhalten sehr lange gezeigt hat, dann kann ich damit rechnen, dass das keine einfache Aufgabe wird, oder dass das Pferd sich nur wenig verändern wird.
Saure Pferde
In sehr vielen Reitställen gibt es Pferde, die die Ohren anlegen und grimmig gucken, sobald sich nur jemand ihrer Box nähert oder sie gar berühren will. Spricht das nicht Bände? Viele Menschen tun das ab als „der/die ist eben böse/zickig/hier Wort einsetzen“. Aber ich denke, der wurde so gemacht, weil er oft erlebt hat, dass er bedrängt, nicht respektiert oder anderweitig vom Menschen gestresst und nicht gehört wurde. Und es gibt auch unter Pferden solche, die sehr viel persönlichen Raum benötigen. So, wie auch wir Menschen nicht alle gleich sind, kann ich auch nicht alle Pferde über einen Kamm scheren. Was für das eine Tier völlig okay ist, kann für das andere überwältigend sein. Was dem einen gefällt, ist dem anderen ein Graus.
Vorlieben und Bedürfnisse sind individuell
Möchte ich mit meinem Pferd eine schöne Zeit verbringen (als „schöne Zeit“ definiere ich hier eine Zeit, die für uns beide schön ist), dann muss ich mich auf es einstellen und seine individuellen Bedürfnisse und Eigenschaften achten. Sonst wird das Pferd eine negative Einstellung gegen mich und gegen das Training, das Reiten oder was-auch-immer-ich-mit-ihm-machen-will entwickeln. Und das hat immer auch gewaltige Nachteile für den Menschen: Mangelnde Motivation, feindseliges Verhalten, Probleme beim Umgang oder beim Reiten.
Manche Erfahrungen – vor allem negative – haben so einschneidende Auswirkungen, dass die Pferde sie ihr Leben lang nicht vergessen oder verzeihen. Das kann dann zum Beispiel so aussehen, dass sie immer mürrisch und schlecht gelaunt erscheinen, wenn Menschen irgendwo um sie herum sind, oder dass sie enorm feindselig oder übernervös reagieren, wenn sie gegurtet oder geritten werden sollen. Ich bin mir sicher, mit genug Zeit und Empathie wäre all das vermeidbar. Es gibt für meinen Geschmack viel zu viele saure, verdorbene Pferde. Manche kann man halbwegs wieder hinbekommen, doch einige bleiben für immer kaputt.
Warum sollte man das Pferd ermutigen, seine Meinung zu sagen?
Ich schätze es sehr, wenn mir meine Pferde ihre Meinung sagen. Und sie wissen das auch! Manche Menschen haben die Sorge, das Pferd könnte das ausnutzen und sich jeglicher Zusammenarbeit oder Anstrengung entziehen. Ich bin der Meinung: Wenn ich das Pferd wirklich auf meiner Seite habe, es mir folgt und vertraut, und wenn es auch weiß, wie es seine Aufgabe lösen soll, dann wird es sehr gern tun, worum ich es bitte.
Ich mache mir überhaupt keine Sorgen, dass meine Pferde das ausnutzen könnten. Ganz im Gegenteil, ich habe sehr gute Erfahrungen gemacht. Meine Pferde wissen, dass sie rundum für ihre Persönlichkeit geschätzt werden, egal was sie mir zu sagen haben. Sie fühlen sich dadurch sicher und sind sehr entspannt und zugewandt. Sie sind enorm freundlich, motiviert und achtsam im Umgang und bei der Arbeit. Wenn sie mal nicht mehr entspannt sind, helfe ich ihnen, es wieder zu werden, und so sorge ich für ihre und meine Sicherheit. Denn auf diese Weise lernen die Pferde, mit Stress umzugehen und sich gezielt zu entspannen. Sie lernen wertvolle Selbstregulation und sind so besser auf Eventualitäten und Schreckmomente vorbereitet.
Bist du wirklich ruhig?
Auch über explosives Verhalten (siehe auch „Hilfe mein Pferd spinnt – der größte Irrtum der Reiterwelt“) muss ich mir keine Sorgen machen. Aus dem Westernbereich stammt der Spruch: „A calm horse is always quiet, but a quiet horse is not always calm.“
Das soll heißen: nur weil das Pferd sich gerade nicht regt, muss es noch lange nicht innerlich ruhig sein. Oftmals ist genau das Gegenteil der Fall, das Pferd ist vor Angst starr und bewegt sich nicht mehr deswegen. Es friert regelrecht ein. Bis es die Angst nicht mehr aushalten kann und explodiert.
Das möchte ich vermeiden, denn auf einem explodierenden Pferd sitzen macht mir keinen Spaß, dem Pferd gewiss auch nicht, und es ist noch dazu gefährlich für uns beide. Auch darum achte ich sehr genau auf die Stresszeichen des Pferdes, und erziehe meine Pferde dazu, mir ihre Meinung über alles mitzuteilen. Was weiß ich, ob ihm sein Gebiss oder sein Sattelgurt bequem ist? Ich stecke ja nicht in seiner Haut. Darum möchte ich gern seine Meinung darüber hören, damit es mir seine volle Aufmerksamkeit schenken kann, statt durch unbequemes Equipment oder etwas anderes abgelenkt oder gestresst zu sein.
Auch pferdischen Ängsten bei Objekten oder Geräuschen in der Umgebung begegne ich auf diese Weise, und das Pferd lernt, dass es mich „fragen“ kann, ob etwas gefährlich ist und was ich darüber denke. Und dass ich mich dann auch darum kümmere, es davor zu beschützen. Damit baue ich riesengroßes Vertrauen auf.
Das individuelle Empfinden
Was alle Pferde, egal wie ihr Charakter gestrickt ist, gemeinsam haben: Sie wollen Bewusstheit und Klarheit von uns. Sie wollen, dass wir einen Plan haben und selber wissen, was wir wollen. Und sie möchten, dass wir sie mit Respekt und Empathie behandeln. Sie erwarten, dass wir gut beobachten können, und dass wir über persönlichen Raum Bescheid wissen. Sie erwarten auch, dass wir gut auf uns selbst, unsere Bedürfnisse und unseren Raum achten. Andernfalls können sie uns nicht ernst nehmen, denn dann senden wir kontinuierlich Signale von Unwissenheit, Unbehagen oder Unsicherheit aus! Und ich denke, Pferde erwarten, dass wir kompetent damit umgehen können, wenn sie sich gestresst und unwohl fühlen, anstatt ihnen zu verbieten, das zu zeigen, indem wir mit ihnen schimpfen oder sie strafen. Strafe ist nur in sehr wenigen Fällen die richtige Antwort auf etwas, das ein Pferd tut.
Der Blick auf uns selbst
Um noch einmal zum Ausspruch des Herrn von Neindorff zurückzukehren: Pferde sind unsere Spiegel. Oft zeigen sie uns, was in uns selbst vorgeht. Wenn wir unruhig, angespannt oder unsicher sind, spürt das unser Pferd – und reagiert darauf. Es gibt kaum einen besseren Lehrer für Selbstreflexion als ein Pferd. Manche Pferde reagieren mit Nervosität auf die Hektik ihres Besitzers, andere mit Lethargie, manche mit Abwehr. Auch wenn wir nicht mögen, was unsere Pferde uns sagen oder tun, sollten wir dennoch zuerst bei uns nachforschen, was wir vielleicht dazu beigetragen haben.
Pferde haben kein Interesse an Machtspielen. Sie wollen sich sicher fühlen, Teil einer verlässlichen Gemeinschaft sein und ihren Platz in dieser Gemeinschaft kennen. Wenn ein Pferd sich „schwierig“ verhält, lohnt es sich, statt vorschneller Urteile nach den Ursachen zu suchen. Oft zeigt uns das Pferd etwas, das wir in uns selbst ändern können – sei es unsere Körpersprache und unser Timing, oder unsere Haltung, unsere Erwartungen oder unser Umgang mit Druck und Kontrolle.
Unsere Aufgabe
Am Ende sind Pferde keine starren Wesen, die „halt so sind“. Sie sind wandelbar, anpassungsfähig und bereit, uns zu folgen, wenn wir lernen, die Führung authentisch zu übernehmen und immer konsequent im besten Interesse des Pferdes zu handeln. Egal ob im Umgang oder in der Ausbildung. Unsere Aufgabe ist es, die Pferde auf ihrem Weg zu begleiten – und dabei vielleicht auch ein Stück weit uns selbst zu verändern.
Denn eins ist sicher: Kein Pferd ist einfach so. Jedes Verhalten hat eine Ursache und will uns etwas sagen. Hinzuhören und unser Pferd ernst zu nehmen, ist der erste Schritt zu einem harmonischen Miteinander.
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